Eine elegische Landpartie führte mich am vergangenen Wochenende weit nach Südosten, nach Niederschlesien. Ich traf mich mit lieben Freunden und da ich das erste Mal „auf eigene Faust“ in Polen unterwegs war, bat ich darum, dass wir von Prusice aus eine etwas ausgedehntere Tour nach Süden machten. Ich wollte in das Dorf, in dem meine Großmutter 1905 geboren wurde und meine Mutter und ihre Geschwister die Schulferien auf dem Hof ihrer Großmutter, also meiner Urgroßmutter verbrachten. Auch über das Kriegsende 1945 hinaus wollte die Familie bleiben, die Urgroßmutter als Clanchefin hatte das Heft auf dem Hof fest in der Hand, denn inzwischen lebten nicht nur die Familienmitglieder auf dem Hof, die hier die Landwirtschaft betrieben, sondern auch meine Großmutter hatte sich mit ihren vier Kindern hier eingefunden. Mein Großvater hatte sich auch irgendwie auf dem Hof eingefunden, auf jeden Fall war die Familie beisammen, als sie 1946 aufgefordert wurden, innerhalb kürzester Zeit den kleinen Ort und alles, was sie besaßen, hinter sich zu lassen. Irgendwann kamen sie in Altenbeken bei Paderborn an, mit dem Wenigen, was sie auf dem langen Weg mitnehmen konnten. Der Großvater fand sich in einer Dorfschule in Benhausen bei Paderborn wieder, später in Altenbeken oder war es umgekehrt? Die Familie der Großmutter war nahe beieinander geblieben, da rund um Paderborn. Willkommen waren sie allesamt nicht, da im Nachkriegsdeutschland, wo nun die Einheimischen für die Flüchtlinge auch noch Platz machen mussten. Ungeliebt waren sie, wo sie doch noch wenige Jahre vorher mit markigen Worten von Rednerpulten heiser hinabgeschrieen, allesamt zu „Volks- und Schicksalsgenossen“ gemacht worden waren. Daran wollte sich aber niemand gerne erinnern lassen.
Und so wurde Riegersdorf zum Sehnsuchtsort, die Heimat, die nun für sie unerreichbar wurde und zudem nicht mehr Riegersdorf, sondern nun Potworow heißt.

Sehnsuchtsort im Paderborner Wohnzimmer
Immer, wenn sich die Verwandten trafen, wurde von „zuhause“ gesprochen und niemals das neue Zuhause gemeint, in dem sie nur quälend langsam ankamen. Und auch als die Generation meiner Mutter ihren Weg in der neuen Heimat suchte und mitunter in die neue Umgebung einheiratete, wurde das Zuhause in Schlesien als das einzige beschworen. Zu Weihnachten, zu Geburtstagen und Beerdigungen, wenn wir Kinder bei meinen Großeltern für ein paar Tage zu Besuch waren, immer war Schlesien auch dabei. Wir verstanden diese Traurigkeit natürlich nicht, denn wir waren ja die Generation, die nur in den Frieden und auch in den Wohlstand Westdeutschlands hineingeboren war. Als kleinere Kinder hörten wir den Geschichten wie Märchen zu, obwohl dort keine Prinzessinnen und Königssöhne mitspielten. Später schalteten wir die Ohren auf Durchzug bei den immerselben Erzählungen und Liedern. Heute verstehe ich es, denn nur so konnte die Erinnerung lebendig gehalten werden, denn es gab nur wenige Fotos, an denen man sich festhalten konnte.
Als die Grenzen gen Osten durchlässiger wurden, machten sich Cousinen und Cousins meiner Mutter und eine meiner Großtanten auf, um mit dem Bus in die ehemalige Heimat zu fahren. Sie kamen niedergedrückt zurück, denn nichts war mehr so, wie sie es in Erinnerung hatten, die je weiter sie zurück lag, immer strahlender geworden war. Inzwischen hat sich manches verändert, es sind über die Jahre Kontakte und Bekanntschaften nach Schlesien entstanden, die manches einfacher machen.
Vor einigen Jahren lernte ich eine Kollegin kennen, die in Prusice aufgewachsen war. Unbefangen erzählte ich ihr nach einiger Zeit von meiner Familiengeschichte. Sie reagierte zunächst ablehnend, bis sie mir erzählte, dass ihre Eltern ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Die ihre lag im östlichen Polen, welches heute zur Ukraine gehört. Sie gehörten zu jenen Polen, die dort angesiedelt wurden, wo zuvor die deutschen Vorbesitzer vertrieben worden waren. Aber so ist der Krieg: irgendwer fängt an und setzt damit Ereignisse in Gang, die noch Generationen später ihre Auswirkungen haben. Inzwischen ist sie mir eine Freundin geworden und so war sie gerne bereit, mit mir den Abstecher nach Potworow formerly known as Riegersdorf zu machen. Als ich ihr den Dorfnamen noch einmal nannte, lachte sie aus vollem Herzen, denn ein „potwòr“ ist ein Scheusal oder Monster.
Wie aber würde ich zu dem Hof meiner Urgroßmutter finden? Bei meiner Oma im Wohnzimmer hing das Bild, das sich seit Kindertagen eingeprägt hatte, dankenswerterweise war mein technikaffiner Onkel bereit, mir das Bild des Hofes per MMS nach Polen nachzuschicken. Zudem war ich vorher mit dem Auto von Tante Guugl durch den Ort gefahren und hatte mich digital schon etwas umgeschaut. Nun war ich also da und ehrlich gesagt, doch etwas aufgeregt. Das Auto hielt am Ortseingang und Renata und ich spazierten los. Der zweite Hof links, das musste er sein. Der unbefestigte Weg führte über einen Bach hin zu einem Vierseithof, an dessen Ostseite zwei Arbeiter kleinere Bäume gefällt hatten. Die Freundin begrüßte sie und meinte, dass wir mal schauen wollten, ob wir von hier die Kirche in Bardo sehen könnten. Sie schauten uns misstrauisch nach, denn das weiß doch jedes Kind, dass man nur vom Hügel da hinten am Fußballplatz so weit in das wellige Hügelland schauen kann. Unbeirrt setzten wir unseren Weg fort und bogen zur nach Süden gerichteten Hofeinfahrt ab. Und dann sah ich das Haus, den Sehnsuchtsort meiner Mutter, ihrer Mutter und ihrer gesamten Familie. Die Remisen mit der alten Tordurchfahrt sind dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, die anderen drei Seiten stehen noch, mehr oder weniger. Das Wohnhaus ist offensichtlich von zwei unterschiedlichen Parteien bewohnt, denn nur eine Hälfte ist in den letzten Jahren geweißt worden.

… vorbeigefahren…

Der Blick zu den Hügeln

Wohn- mit Backhaus, davor der Baum vom Bild

Dachlandschaft über Remisenresten

Wohnhaus, zwiegeteilt

Die große Scheune

EU-Mittel zur Dorferneuerung, Hoffnung?
Lange sind wir nicht geblieben, die beiden Arbeiter schauten misstrauisch nach uns und meckerten Renata an, was wir denn da wollten. Kann ich ja auch verstehen, dass sie nicht erfreut waren, fremde Leute auf dem Hof zu haben. Wir hatten ja nicht wirklich gesagt, warum wir da waren.
So war mein Besuch am Sehnsuchtsort nur ein kurzer. Keine Zeit, innezuhalten, aber auch keine Zeit, um traurig der Trauer und verlorenen Heimat meiner Verwandten willen zu werden. Aber ich weiß nun, wonach sie sich verzehrten. Wo meine Uroma ihr Brot buk, meine Oma als vierfache Mutter wieder Tochter sein durfte, meine Mutter Kind war.
Komisches Zwischendinggefühl. Sehnsuchtsort.
Ihre Heimat, nicht meine. Oder?
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