Archiv für 20. August 2010

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Haustürgeschichten

Lange liegt mir diese Geschichte schon irgendwo auf dem Schreibtisch meines Hinterkopfes herum, mehrmals habe ich hier schon angefangen, sie aufzuschreiben, bin aber nie zum Ende gekommen. Am Freitag war ich zum Essen eingeladen, gegessen wurde koscher im Gabriel’s im jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Der Gastgeber entschuldigte sich zwar immer wieder für das Essen, welches aber gar nicht unschmackhaft war, dennoch waren das Interessanteste die Tischgespräche.
Und so kam diese uckermärkische Impression der anderen Art wieder an die Oberfläche.
Als ich im Herbst 2008 relativ unvermittelt in der Uckermark zu tun hatte, brauchte ich für die Dauer meines Aufenthaltes natürlich auch eine Übernachtungsmöglichkeit. Dummerweise hatte Brandenburg gerade Herbstferien, keine der bekannten Unterkünfte hatte noch ein Bett für mich frei.
Eine Mitarbeiterin gab mir den Tip, es bei einem der Höfe in Dreesch zu versuchen, dort hätten Kollegen auch schon einmal eine Bleibe gefunden, als unsere sonstigen Pensionen belegt waren.
Als ich an den Gartenzaun trat und auf die Klingel blickte, musste ich erst einmal lächeln, denn der Name verhieß mir deutlich, dass hier Westfalen wohnten, „…kötter“ lässt seine geografische Herkunft unschwer verleugnen. Ich trat durch den Vorgarten an die Haustür und klingelte.
Und klingelte noch einmal, da niemand die Tür öffnete, es war schließlich ein großes Haus, vielleicht hatte man mich nicht gehört. Als ich mich gerade schon zum Gehen umdrehen wollte, wurde die Tür doch noch geöffnet. Ein älterer Herr Anfang siebzig musterte mich. Ich sagte mein Sprüchlein auf, dass ich eine Unterkunft von Montag bis Freitag suche, und dass ich den Tip bekommen hätte, dass sie auch vermieteten. Plötzlich fing er an zu weinen. Ich stand da, wie vom Donner gerührt und war mir keiner Schuld bewusst. Dann sagte er, dass seine Frau im Krankenhaus sei. Ich fragte, ob es denn etwas Schlimmes sei. Er schneuzte sich die Nase in ein großes kariertes Taschentuch und meinte, nein, sie wäre zur Beobachtung da, weil sie Kreislaufprobleme habe. Aber er, er fing wieder an zu weinen, er sei ganz alleine und müsse sich um alles alleine kümmern. Mein Mitleid wandelte sich in abwartendes Schweigen, schließlich weinte er ja nicht, weil seine Frau krank war, sondern eher Mitleid heischend um sich selber. Schließlich sagte ich, dass ich ihn dann nicht länger stören wolle. Er fiel mir ins Wort und meinte, dass ich trotzdem das Zimmer haben könne, ich müsse mir aber das Bett selber beziehen und es wäre schön, wenn ich auch das Frühstück bereiten könne, er würde dann auch mit mir frühstücken. Nun ist es nicht meine Art, fremden Herren das Frühstück zu bereiten und langsam beschlich mich das Gefühl, dass er eine Putzfrau suchte. Ich bedankte mich artig und wollte gehen, da begann er unvermittelt, mir sein Leben zu erzählen, dass seine Frau die zweite sei, von der ersten sei er geschieden, er berichtete mir von der LPG, der er vorgestanden habe, welche Straße erst auf seine Initiative gebaut worden sei und überhaupt. Mir war schon sehr unbehaglich ob dieser vielen Geschichten, die ich eigentlich nicht hören wollte, aber ich wollte ihn auch nicht so da in der Tür stehen lassen, meine anerzogene Hemmschwelle ließ mich verharren.
Dann holte er noch weiter aus und erzählte, dass seine Eltern 1937 aus der Nähe von Unna in die Uckermark gezogen wären, denn in Westfalen hatten sie als Landarbeiter kein eigenes Land besessen, erst mit der inneren Aufsiedlung inklusive Landzuteilung durch den „Reichsnährstand“ in der 2. Hälfte der 1930er Jahre wurden sie zu Herren auf eigener Scholle.
Nun wurde mir auch klar, warum das kleine Dorf so gleichartige Höfe mit diesen großen dunklen Holzscheunen hatte: es handelte sich um eine planmäßige Ansiedlung, wie sie zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durch die nationalsozialistische Agrarpolitik durchgeführt wurden.
Der Mann an der Tür erzählte mir, dass er als vierjähriger Junge mit seinen Eltern in die Uckermark gezogen sei. Im Dorf wohnten Neubauern aus allen Ecken Deutschlands, Schwaben, Niedersachsen, Hessen. Und die neuen Hofbesitzer bekamen auch gleich Hilfskräfte aus Polen, der Ukraine, aus Frankreich und Belgien, wie er mir erzählte. Das Wort „Zwansgarbeiter“ war nur in meinem Kopf. Und er erzählte auch ganz stolz, dass er als Kind sogar ein paar Brocken polnisch gesprochen habe. Heutzutage würde man ja auch wieder nach Polen zum Einkaufen fahren. Und dann kam der Moment, als ich mich umdrehte und grußlos ging: „Heutzutage,“ sagte er eifrig, „heutzutage würde ich auch, wenn meine Frau nicht mehr ist, einer Polin die Hand reichen. Sie sind gar so nicht dreckig, wie man immer sagt.“
Mir war ziemlich schlecht, als ich fast vom Hof lief. So sieht er also aus, der nette Rechtsradikale von nebenan: ein freundlicher älterer Herr, der einem die Haustür öffnet.




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