Liebe Leser und Leserinnen,
ich wünsche allenthalben schöne Festtage, ohne Stress, ohne Familienstreit und natürlich mit zauberhaften, liebevoll ausgesuchten Präsenten!
Mit dem Heiligen Abend verbinde ich eine ganz besondere Geschichte, nein, nicht die von Peter Handtke und der „Möhre“, sondern die mit einer Rinderzunge und meinem Vater.
Meine Mutter starb im Oktober 1987, mein Vater wollte an dem darauf folgenden Weihnachtsfest natürlich alles so „wie immer“ haben. Leider schloss das die Rinderzunge in Madeirasoße als Weihnachtsessen mit ein.
Und wie jeder ambitionierte Hobbykoch weiß, muss das graue Ding in einer Suppe erst ordentlich weich gekocht und dann gehäutet werden. Sodann wird es in Scheiben geschnitten und in der madeiralastigen Soße wieder erwärmt. So lautete zumindest unser Familienrezept. Dazu gab es Reis und, solange ich mich erinnern kann: Dosenpfirsiche mit Preiselbeermarmelade darin als kulinarische Krönung.
Ehrlich gesagt, schüttelt es mich heute in Gedanken an dieses „Festessen“! Aber damals war es halt so.
Nun rückte der Heiligabend heran, mein Vater hatte beim Metzger seines Vertrauens das DING vorbestellt. Anklagend lag die ausgestreckte Rinderzunge dann in der Papierverpackung vor mir auf dem Küchentisch. Meine Schwester, damals süße fünfzehn, saß mir gegenüber und schaute genauso anklagend wie der einstmalige Besitzer der Zunge geschaut hätte, wären die Augen nicht längst… ahh… neee..!
Nun denn, nach ausführlichem Studium der Kochnotizen meiner Mutter in dem handgeschriebenen Kochbuch aus ihrer Zeit als „Pflegevorschülerin“, warfen wir die Zunge mitsamt ordentlich Wasser, Suppengemüse und Brühwürfeln in den Dampftopf. Feuer unterm Topf und dann verzogen wir uns erleichtert aus der Küche.
Wie auch heute noch an Heiligabend-Nachmittag kamen eine Menge Filme, die sonst während des Jahres nicht zu sehen waren: „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ und so weiter.
Wir beiden hingen einträchtig gebannt vor der Flimmerkiste. Währenddessen hing unser Vater im Vorgarten in der Blautanne und reparierte die Lichterkette. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, welches wir auch im Alter von 18 und 15 Jahren vor der Bescherung nicht betreten durften, prangte schon in vollem Schmucke.
Wir schauten dem Aschenbrödel zu und hatten die Welt um uns herum und die Zunge im Brühebad längst vergessen. Dann erschien auch noch der Freund meiner Schwester, der liebe Änne, und wir schauten zu dritt.
Keiner hatte das Pfeifen des Dampftopes bemerkt, welches seit geraumer Zeit durch die Küche gellte. Nur mein Vater stieg alarmiert aus Garten und aus dem Keller in die Küche und vermeinte, eine Winzigkeit Angebranntes zu riechen. Er zog den Topf vom Feuer, holte tief und lange Luft und schrie durch das Haus: „DIE ZUNGE IST ANGEBRANNT!“
Meine Schwester und ich rannten in die Küche, währenddessen hatte mein Vater längst den Überdruck aus dem Topf abgelassen und dampfte in der dampferfüllten Küche selber auch, aber vor Wut.
Die Zunge holte er mit einer langen Fleischgabel aus der Brühe, warf diese mit schmatzendem Schwung auf einen großen Teller und suchte das graue Ding nach Spuren von Verbrennungen zweiten und dritten Grades ab.
Als er keine fand, nahm er einen Suppenlöffel und kostete die Brühe. Wieder meinte er RÖSTAROMEN festgestellt zu haben. Nun war es um seine Fassung vollends geschehen! Dazu muss man wissen, dass mein Vater klare Suppen sehr, sehr gerne isst, ihren Geschmack allerdings stets mit MAGGI (sehr westfälisch!) verfeinert.
Mein Vater konnte sich nun nicht mehr beherrschen! Er riss den Topf mit der überschwappenden heißen Flüssigkeit an sich, rannte, mit uns Schwestern im Gefolge, wie ein Komet mit Schweif durch die Haustür nach draußen und beförderte den Inhalt mit einem Schwung unter den Apfelbaum vor dem Haus. Dieser zuckte schmerzhaft zusammen. Währenddessen stand Änne mit offenem Mund und weitaufgerissenen Augen an der Haustür und beobachtete fasziniert-fassungslos das Spektakel…..
Als unser Vater und der leere Topf wieder wieder das Haus betraten, war ersterer blass um die Nase, holte erneut Luft und schrie, wirklich er schrie: „ICH BAU DEN BAUM AB!“ Für meine Schwester und mich war klar, er meinte den Weihnachtsbaum, der mit dem seit 1965 immer wieder eingesammelten und fingerkurzen Lametta, den mit den seit 1965 verblichenen Weihnachtskugeln, den mit der Krippe unter den breiten Ästen!
Meine Schwester und ich mussten uns nicht anschauen, wir waren uns erstmals seit ca. 15 Jahren einig! In höchstem Sopran kreischten wir unisono:
„OH BITTE BITTE NEEEEIN!“
Dieses Theater ging noch ein paar Mal hin und her, schlussendlich blieb der Baum stehen, die Suppe fiel aus, denn die lag ja unterm Apfelbaum, aber die Zunge wurde aus der Haut gepellt und nach oben beschriebenem Rezept zubereitet.
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es nie wieder „Zunge in Madeira“ bei uns zu Weihnachten gab.
Und im übrigen wurde der Dialog „Ich bau‘ den Baum ab!“ und „Oh bitte bitte neeeein!“ bei meiner Schwester und mir zu einer festen Redewendung, die wir bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten von uns geben.
Wir können dann lachen, bis uns die Tränen die rosigen Wangen herunterlaufen. Und wat freu‘ ich mich, sie morgen zu sehen!
Unterm Weihnachtsbaum bei meinem Vater…. das fingerkurze Lametta und die verblichenen Kugeln werden auch da sein…
Wat schön!
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