20
Nov
08

Geruchsengramm

An jenem Nachmittag waren wir schon eine Weile zu Fuß unterwegs. Das Ziel war ein versteckt liegenden Bauernhof am Übergang zwischen Oberfranken und Oberpfalz, dessen Dachwerk und Hofstruktur von uns Studenten eingehend angeschaut werden sollte. Es war zwar Mai, aber die Wolken am Himmel zogen sich schon zu einem ordentlichen Regenschauer zusammen. Als die ersten Regentropfen fielen, erreichten wir den Hof des alten Mannes, der uns mit seinen Kindern schon erwartete.
Wir hingegen waren auf diese Begegnung nicht gefasst, denn er winkte uns mit einer Handbewegung ins Haus, aus dem Regen ins Trockene. Vom kleinen Ern, dem Korridor geleiteten uns die Drei in die Wohnstube, in der ein Kachelofen noch etwas Wärme spendete. Ein Huhn floh aufgeregt gackernd vor uns fünfzehn Unbekannten. Der alte Mann erzählte glucksend lachend etwas und räumte den Reste des Mittagessens vom Tisch, aber keiner von uns verstand ihn. Die warme Luft des Raumes war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, denn abgesehen von den Hühnern, wohnte auch ein Schwein und ein Kälbchen im angrenzenden Stall unter demselben Dach und so war ein wirklich authentisches (Geruchs-)Bild entstanden, welches kein Freilichtmuseum, welches ich jemals besucht habe, bieten kann. Dass wir ihn nicht oder nur teilweise verstanden, lag nicht nur an den fehlenden Zähnen, sondern auch daran, dass er einen wirklich absolut lokalen Dialekt dieses Niemandslandes an der Grenze zu Tschechien sprach, den nicht einmal die mitwandernden Kommilitonen aus Ober- und Unterfranken verstanden. Daher war auch die Tochter des Mannes samt Gatten, beide schon im Rentenalter, zum Übersetzen dabei.
Unser Professor bestand dann noch darauf, dass wir uns die Dachkonstruktion vom Speicher aus ansahen, ihm war es selten peinlich, bei fremden Menschen durch das Haus zu stöbern, uns umso mehr.
Dieses olfaktorische Erlebnis habe ich immer im hinteren Bereich meiner Geruchserinnerungen, wenn ich ein Freilichtmuseum besuche, denn die Gerüche sind niemals so stark wie damals an jenem Tag, auch wenn man irgendwo rückgezüchtete Schaf-, Schwein- und Rinderrassetiere hält.
Das ganze Dorf Lehde sollte in den 1950er Jahren zum Museumsdorf umgewidmet werden, was aber am Widerstand der Bewohner scheiterte, die nicht zum “lebenden Inventar” werden wollten. So begann dann 1955 mit der Errichtung des ersten Gebäudes, eines Wohnstallhauses die Geschichte des Freilichtmuseums. Aus dem Heimatmuseum aus Lübbenau wurde das Inventar des “Spreewaldzimmers” eingeräumt, welches eine Wohnstube um 1850 zeigt. Nach und nach kamen so neun Gebäude unterschiedlicher Funktion zusammen, die das Leben der ländlichen Bevölkerung bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen.
Die Häuser sind liebevoll eingerichtet, auch die Museumsmitarbeiter wissen gut Bescheid über “ihre” Häuser und deren Inventar. Vielfältige Veranstaltungen rund um die inzwischen ausgestorbene “wendische Volkskultur” inszenieren das Leben vor 100 bis 150 Jahren, vielleicht die einzige Möglichkeit, zumindest die Erinnerung lebendig zu halten.
Zwei kleine Publikationen, eine über das Dorf selber und eine über die wiedererrichteten Häuser bieten einen guten Überblick und sind im Museum auch recht hilfreich.
Mir ist der Besuch an einem sehr heißen Sommertag vor ein paar Monaten noch gut in Erinnerung: in den Häusern war es etwas kühler als draußen und ich war an jenem Tag doch froh, dass mich beim Betreten keine authentische Geruchswelle überschwappte.


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